Singen in professionellen Chören

„Jetzt bitte zart und knabenhaft!“ oder „Nur weil wir hier in der Provinz arbeiten, müssen wir ja nicht so klingen.“

Kennen Sie diese oder ähnlich provozierende Zitate?

Der Chorist hat es nicht leicht. Da hat er Jahre seines Studiums damit zugebracht, seine Stimme zu wahrer Größe zu entfalten, gerät aus verschiedenen Gründen in ein Chorengagement an einem Opernhaus und sieht sich mit diesen und vielen anderen Forderungen konfrontiert.

Die Marktsituation hat sich in den letzten Jahren für SängerInnen derart zugespitzt, dass man einen professionellen Sänger mit gewerkschaftlich sicherem Chorvertrag eigentlich nur beglückwünschen kann. Wäre da nicht in den meisten Fällen ein unwissender Chordirektor oder Dirigent der, um es gerade heraus zu sagen, von der ausgebildeten Stimme häufig absolut keine Ahnung hat.

Gewünscht wird eine überdeutliche Aussprache, und wenn sich Mund und Kiefer nicht akrobatisch bewegen, glaubt einem der Chef am Pult nicht, dass man sich im sängerischen Arbeitsmodus befindet.

Kaum eine Probe oder ein neues Stück, in dem nicht immer dieselbe langweilige Forderung nach überdeutlicher Aussprache auftauchen würde. „Vorne bitte, vorne sprechen, Aussprache bitte!“

Dies hat auf Dauer negative gesangstechnische Auswirkungen. Wenn Sie dieser Bitte ungeschickt nachkommen, entfernt sich Ihre Aussprache mehr und mehr von Ihrem Stimmsitz. Ihre Aussprache verliert den Kontakt zur resonierenden, klangvollen und farbenreichen körperlichen Stimme. Wer die Aussprache zu weit nach vorne bringt, nimmt den Resonanzraum, den Mundhöhle und besonders der Rachen bieten würde, nicht mit! Ein fataler Fehler. Denn wer sich vom Sitz der Stimme (Kehlkopf) entfernt, gefährdet seine Stimmgesundheit.

Ich habe größte Hochachtung vor Choristen, die Spielzeit um Spielzeit durchhalten.

„Bitte langweilen Sie mich heute nicht.“

Wie soll ein Chorist, dessen Aussprache und Klang so weit nach vorne gebracht wurden und dessen Atemfluss durch die überdeutliche vorne sitzende Konsonantenbehandlung „abgehackt“ wird, den Freiheitsdrang darstellen, der in Verdis Gefangenenchor aus der Oper Nabucco zum Ausdruck kommen soll? Um den Freiheitsdrang musikalisch darstellen zu können, benötigt man eine ununterbrochen fließende „Klanglinie“, die durch den Atem geführt wird. Wir haben es hier doch mit einer sehr fließenden Chormelodie zu tun. Mit jedem übertriebenen Konsonanten wird der Atemfluss quasi zerschnitten. Selbstverständlich möchte ich nicht in Abrede stellen, dass es Stücke gibt, die eine vertikale, also eher rhythmische Herangehensweise benötigen und damit eine perkussivere Stimmbehandlung vertragen. Doch höre ich die Beschwerde von Profichoristen zu oft: „Immer dieser Wunsch nach überdeutlicher Aussprache.“

Insofern müsste die Bitte nach Vermeidung von Langeweile nicht von einer einzelnen Person, sondern von der Mehrheit im Chorsaal geäußert werden! Allein, keiner traut sich. Die Hierarchie hat ihre Mechanismen. Der Chor- + Solovertrag ist solch ein Mechanismus. Einstmals eingeführt, um dem Theater Kosten zu sparen, funktioniert er gut als eine Art Druckmittel den Choristen gegenüber. Denn welcher Chorist möchte nicht aus der Masse heraustreten und unter Beweis stellen, dass auch er oder sie eigentlich über solistische Qualität verfügt. Denn auch in der Chorgemeinschaft möchte doch jeder als Solist erkannt werden. Dieser Drang liegt in der Natur des Sängers, und nur wenige verfügen über einen gezügelten Charakter, um die Atmosphäre zu schaffen, die man braucht, um den Chorklang gemeinschaftlich und rücksichtsvoll zu formen. Sie ahnen, dass in dem Drang innerhalb der Gemeinschaft ein Solist bleiben zu wollen eine weitere und ganz andere Problematik steckt. Der Einzelkampf in der vermeintlichen Gemeinschaft des Chores macht jeden zum Gefangenen der Mechanismen, die notwendig sind, um ein paar Zentimeter aus der Gemeinschaft herausragen zu können. Kurzum – dieser letzte Absatz kann nur ein Denkanstoß zur „atmosphärischen Umstrukturierung“ sein, und er gehört hier auch nicht wirklich hin.

In meinem Studio beobachte ich bei Choristen ein sich wiederholendes stimmtechnisches Problem: Kehlkopf und Zungenrücken stehen zu hoch, fehlender Stimmbandschluss wird durch einen extrem hohen Atemdruck auszugleichen versucht. Durch die zu weit vorne sitzende Aussprache drückt, bzw. hängt der weiche Gaumen nach unten, was einen matten dumpfen Klang erzeugt.

An dieser Stelle wird die fatale Schnittstelle zwischen der Bitte der Chorleitung nach brillant heller oder Knabenhaftigkeit (klanglich) formulierter Aussprache und der bemühten Ausführung des Choristen klar. Der Rachen geht diesen gewünschten „Weg“ nicht mit und der weiche Gaumen – ohnehin schwer zu bedienen, da er untrainiert willkürlich agiert – hängt herab, lässt den Übergang in die Nase offen, und der Klang „verpufft“ diffus in der Nasenhöhle, wo eigentlich die Brillanz des Klanges gebildet werden müsste.

Nun trägt nicht allein der ChorleiterIn Schuld an diesen Resultaten. Es ist wie immer eine Frage der Ausbildung auf beiden Seiten. Hinzu kommt ein kommunikatives Problem. Was der ChoristIn als musikalische Anweisung empfängt, muss nicht das sein, was die Chorleitung meint und möchte. Viele Chefs, die vor Chören oder am Pult stehen, sind schlicht hilflos. Was sie mitunter, um ihre Autorität künstlich zu erhalten, zur „Unmenschlichkeit“ zwingt.

In Kombination mit dem oben beschriebenen Verhalten des Choristen als Einzelkämpfer ergibt sich oft eine für die Psyche ungesunde Atmosphäre.

Meine Beobachtungen und die mir zugetragenen Erfahrungsberichte mögen nicht immer zutreffen und natürlich gibt es Choristen wie auch Chorleiter die sich um beschriebenes nicht den Kopf zerbrechen müssen. Doch kann ich jedem Choristen nur empfehlen zu versuchen, sich selbst stimmlich treu zu bleiben. Ich nenne das zu lernen: „bei sich zu bleiben.“

© Clemens Gnad