Große Stimmen zur vollen Entfaltung bringen

Vor einem Jahr traf ich nach einem wundervollen Konzert Bryn Terfel und seinen Pianisten Malcolm Martineau in Bremen. Überraschend schnell sprachen wir recht privat miteinander, und im Nachhinein muss ich sagen, leider zu wenig über Gesang und Karriere.

Ich bin stimmlich mit den Aufnahmen von Terfel groß geworden, habe sie rauf und runter gehört und ihn als Falstaff an der Met erlebt. Es war immer eine große Freude.

Mich faszinieren bis heute besonders seine voll resonierenden Piani. Wie schafft es eine solch gewaltige Stimme, zart schmeichelnde Töne im Piano zu produzieren?

Man könnte meinen, dass eine große Stimme, wie die Stimme eines kraftvollen Helden-Tenors, eines dramatischen Soprans, Mezzos, Contraltos oder dramatischen Baritons durch besonders viel Kraft und Druck zur vollen Entfaltung gelangt oder dass Durchschlagskraft und überzeugende Power nur durch besonders große Anstrengung erlangt werden können.

Große Stimmen brauchen Kraft und Druck – das Gegenteil ist der Fall.

Vor einiger Zeit hatte ich die Ehre, die schwedische Sopranistin  im dramatischen Fach Nina Stemme kennen zu lernen. Eine tolle Begegnung, nach der ich einer Probe zu Wagners „Die Walküre“ beiwohnen durfte.

Woher kommen diese, je nach Ausdruck mal warmen, durchweg silbrigen, metallischen und kraftvoll durchschlagenden Töne eines dramatischen Soprans?

Besonders auffällig und aktiv geht Stemme mit ihren Atemmuskeln um. Vor jedem Einsatz weitet sie ihren Brustkorb und behält diese Haltung über jede Phrase bei oder weitet den Brustkorb wiederum für einen extraordinär hohen Ton. Dadurch wird ein Überblasen der Stimmlippen verhindert und ein guter Stimmbandschluss gewährleistet. Die flexible Handhabung dieser Funktion ist ein Spezifikum der schwedisch-italienischen Gesangsschule. Überhaupt nutzt Nina Stemme ihren Körper wie ein Instrument und verlangt ihm alles technisch Notwendige ab, um diese besondere Qualität zu erreichen. Dabei wirkt sie stets souverän und unangestrengt!

Wie kommt es zu dieser wünschenswerten Mühelosigkeit?

Abgesehen vom wichtigen Kriterium der oben beschrieben Atemführung, sollten die Stimmbänder über die „thin edge function of the vocal folds“ – über ihre Randkante einschwingen.

Ein gesunder Stimmbandschluss erfolgt immer über die Randkante, egal in welcher Lage. Bei gut geführten Stimmen hört man eine Art „Klick“, wenn die Stimmfalten aufeinander treffen. Ein Indiz für ein präzises Aufeinandertreffen der Stimmfalten.

Eine Möglichkeit, den Vorgang des Zusammenkommens der Stimmbänder über die Randkante zu trainieren, ist folgende Übung auf einem zarten „U“:

2 – 1 – 2
U – U – U
Ausführung: Halbton für Halbton durch Ihr gesamtes Brust- und Kopfregister

Immer im Piano!

Beachten Sie bitte dabei, eine kleine, für den Vokal „U“ ovale Mundstellung einzunehmen und den Kiefer entspannt mit der Melodie nach hinten gleiten zu lassen.

Diese unaufwendige Übung erlaubt es Ihnen, den Vorgang sehr konzentriert zu begleiten. Kontrollieren Sie den körperlichen Vorgang des gleitenden Kiefers zur Visualisierung vor dem Spiegel. Sollte sich Ihr Kiefer nicht von selbst in die gewünschte Position begeben, helfen Sie ihm mit Ihren Händen nach.

Nachdem sich die Funktionsweise des „Zusammenklickens“ der Stimmbänder verbessert hat, lässt sich stimmlich weiter darauf aufbauen.

Die stimmtherapeutische Funktion dieser Übung kann eine große Wirkung entfalten.

© Clemens Gnad