Hören oder Fühlen?

In meinem Gesangstudio in Bremen eint eine schlechte Gewohnheit alle SängerInnen:

Sie hören sich wahnsinnig gern selbst zu!

Diese Art zu üben oder zu singen hat Folgen für die Praxis wie für das Singen von Übungen.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf der Bühne eines Theaters. Das Orchester befindet sich fünf Meter unter Ihnen. Der Dirigent ist 8  oder 10 Meter von Ihnen entfernt, hinter Ihnen Kulissen, über Ihnen der meterhohe Schnürboden und vor Ihnen die Weite des Auditoriums.

Das Orchester spielt, der Dirigent gibt Ihnen das Zeichen zum Einsatz, und Sie beginnen zu singen. Nach ein paar Schlägen erhalten Sie erste Signale vom Dirigentenpult, nicht zu schleppen. Wieder und wieder macht er Sie aufmerksam und treibt das Tempo voran.

Sie wundern sich und fragen sich, was das soll; denn nach Ihrer Auffassung machen Sie doch alles richtig.

Man sagt: Im Theater lernt man, nach Schlag zu singen. Das ist ein Teil der Wahrheit. Viel wichtiger ist es, nicht nur nach Schlag zu singen, sondern aufzuhören, sich selbst zuzuhören!

In unserer Bühnenschilderung geht der Klang erst von Ihnen weg, und Sie überprüfen ihn dann von außen auditiv. Dieser Vorgang beinhaltet eine Zeitverzögerung, denn Ihr Klang legt ja einen gewissen Weg zurück, bis er wieder an Ihr Ohr gelangt. Diese „Klang-Zeit-Verzögerung“ führt dazu, dass Sie musikalisch „schleppen“.

Gute Sänger singen nach Gefühl und nicht nach Gehör.

„Fühlende“ Sänger können sich auf den Klang ihres Instruments verlassen und haben über Jahre ein gefühlvolles Vertrauen zu ihrem Organ aufgebaut.

Wenn Sie sich weiterhin zuhören, hat es in der Zeit des Übens von Gesangsübungen oder Repertoire zur Folge, dass Sie sich nicht zu einem aktiven Sänger entwickeln werden, der die notwendigen gesanglichen Vorgänge im Körper versteht und beherrscht.

Bleiben Sie bei der Methode der auditiven Überprüfung, können Sie nicht mehr korrigieren, was Sie schon aus Ihrem Mund geschickt haben. Sie erziehen sich damit zu einem passiven Sänger.

Diese Inaktivität hat zur Folge, dass Sie wieder und wieder „dieselben Wege“ beschreiten und sich lediglich wundern dürfen, warum Sie sich nicht wirklich verbessern.

Sie sind am Klang Ihrer Stimme interessiert und hören sich ausschließlich selbst zu. Selbstverständlich lassen sich Töne, Melodien und Text produzieren und schallen in den Raum. Fälschlicherweise orientieren Sie sich an Ihrem Produkt Schall, der ja schon aus Ihnen herausgekommen ist und welchen Sie nachträglich nicht mehr korrigieren können. Ihre Wahrnehmung (die Überprüfung Ihres Produkts), beschränkt sich ausschließlich auf das Hören, und was Sie da hören, stellt Sie nicht zufrieden, denn Klang formen Sie durch den richtigen Gebrauch von Atemführung und Stimmapparat und nicht durch die inaktive auditive Überprüfung.

Wer den direkten „klanglich-auditiven“ Weg geht, arbeitet nicht an seinem Klang. Ohne körperliche Arbeit keine Klangarbeit.

Esel mit einer Karotte

Es ist ähnlich wie im Esel-Möhre-Prinzip. Sie „rennen“ einem  klanglichem Ergebnis hinterher, welches Sie nicht aktiv beeinflussen, und kommen so nicht ans Ziel.

In der Phase des Übens ist dieser Vorgang vergleichbar mit dem, wieder und wieder mit dem Kopf gegen eine geschlossene Tür zu laufen. Nun zeigt Ihnen jemand, wie diese Tür zu öffnen wäre. Sie sind begeistert und stellen sich vor, nun endlich durch den Türrahmen gehen zu können. Leider hat sich der bisher muskulär negative Vorgang über einen langen Zeitraum in Ihr Muskelgedächtnis gebrannt, und zu Ihrer Überraschung hält Ihr Körper vor dem Türrahmen inne und durchschreitet ihn nicht. Sie wundern sich, denn sie hatten doch kognitiv begriffen, was Ihr Lehrer Ihnen als Ausweg zur Verfügung gestellt hat.

Nur weil Sie kognitiv verstanden haben, wie es gehen könnte, haben Sie noch nicht aktiv die Führung übernommen.

Das, was Sie jetzt vom Lösen der gesangstechnischen Problematik abhält, ist, dass Sie den inneren, körperlichen Vorgang mit dem alten Mittel des Sich-Selbst-Zuhörens begleiten. 

Zugegeben, es ist schwer, sich nicht mehr selbst hören zu wollen, denn die meisten Sänger hören sich auf eine natürliche Weise klanglich „kopfig“ und orientieren sich an dieser raschen Kontrollmöglichkeit ihres Klanges. Dies ist die oben beschriebene Abkürzung. Dauerhaft werden Sie so nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen.

Ich habe mich oft selbst gefragt, wie es möglich sein könnte, etwas schneller an die stimmlichen Verbesserungen zu gelangen, denen ich selbst nachgejagt bin. Heute weiß ich, ich habe mir viel zu lange selbstverliebt zugehört. Das Sich-Selbst-Zuhören darf sich sozusagen erst ganz am Ende der „Produktion“ als letztes überprüfendes Kontrollmittel einschalten.

Um es sehr nüchtern auszudrücken: Sich selbst zuzuhören darf nur wie die Endkontrolle oder die Produktionsabnahme eines handwerklich hergestellten Produktes fungieren. 

Wenn Sie anfangen zu fühlen, kann das neue Klangergebnis zunächst verstören. Doch an dieser Stelle unterscheidet sich der professionelle Sänger vom Laien. Der Profi hat meist ein „Modell vor Augen“. Er weiß, wohin er seine Stimme bringen und welche Leistungsfähigkeit er ihr abverlangen möchte. Er kann quasi „vorweghören“.

In Kombination von Fühlen und Hören setzt sich ein Klangmodell zusammen. Sänger und Lehrer entwickeln gemeinsam eine Vorstellung davon, wohin die „Reise“ gehen kann.

Machen Sie sich klar: Im stimmlichen Ablauf ist der Klang lediglich das Resultat – also das Symptom. Die Ursache für ein positives oder negatives klangliches Ergebnis finden Sie im Zusammenspiel von muskulären Abläufen und Atemführung. Wenn Sie Ihren Klang formen wollen, müssen Sie in den Produktionsablauf: fühlend einsteigen. Medizinisch gesprochen: Behandeln Sie nicht das Symptom – passiv hörend, sondern die Ursache – aktiv fühlend.

© Clemens Gnad