Singen im falschen Fach

Erlernen falscher Gesangstechnik, Langzeitfolgen und Heilung

In meinem Gesangstudio in Bremen begleite ich seit einigen Jahren eine Sängerin, die sich seit früher Kindheit mir klassischem Gesang beschäftigt. Als ich sie kennenlernen durfte, war sie Mitte 30. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ein Hochschulstudium absolviert und danach Erfahrungen mit verschieden Gesangslehrern gesammelt.

Die Kollegen ließen sie im Sopranfach singen. Einer war der Meinung, sie solle Koloraturarien singen, die andere empfahl russisches Repertoire oder lyrischen Mozart. Nichts von all dem versprach Erfolg. Als ich vor drei Jahren die sehr beeindruckende und eigentlich widerstandsfähige Stimme dieser Sängerin kennenlernen durfte, hatte man sie an den Rand der Zerstörung geführt.

In unserer ersten Stunde begleiteten sie große Selbstzweifel, und so nahm ich diese Sängerin als eine Hilfe suchende, verunsicherte Person wahr. Wir begannen mit einfachen Übungen, und ich konnte rasch die problematischen Eigenwilligkeiten ihres Gesangs analysieren.

Einige Symptome ungesunder Stimmbehandlung:

  • Mit der Einatmung verkürzten sich die Muskeln von Nacken, Hals und Schulter und boten so dem Stimmapparat keinen „Anker“ bei Einsetzen der Gesangsstimme.
  • Mit Einsatz des Gesangs blockierte die Rippenmuskulatur inklusive des Latissimus so stark, dass eine Atemführung unmöglich war.
  • Gleichzeitig drückte sich die Bauchdecke nach außen.
  • Die Stimmbänder schlossen nur unter zusätzlichem Druck, der Kehlkopf drückte gegen die Zunge, und die Zunge nahm eine viel zu hohe Position in Rachen und Mundhöhle ein, was die Aussprache absurd veränderte.
  • Der Nacken kollabierte, und der Kopf zog nach oben und vor, ebenso der Kiefer, der rasch zu schlackern begann.
  • Dem weichen Gaumen blieb unter all dem Druck nichts anderes übrig, als nach vorne zu klappen.

Über viele Jahre hatte diese Sängerin eine absolut kontraproduktive Gesangstechnik erlernt. All diese Symptome führten zu einer raschen Ermüdung der Stimme und zu Heiserkeit.

So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Besonders der nach vorne klappende weiche Gaumen irritierte mich sehr. Kurzum – nach meinen Gesichtspunkten stimmte hier überhaupt nichts.

In Folge fehlte es an:

  • Textverständlichkeit,
  • Phrasierung,
  • Musikalischer Ausdruck und Dynamik waren unmöglich umzusetzen
  • An stimmgesundes Singen war nicht zu denken

In meiner Vorstellung ahnte ich, wie diese Stimme klingen könnte, wenn alle unangenehmen stimmtechnischen Gewohnheiten beseitigt wären und das Muskelgedächtnis eine „Umprogrammierung“ erfahren haben würde.

Durch den starken Atemdruck und den hochstehenden Kehlkopf war es schwer, eine Stimmfachbestimmung abzugeben. Durch beide Umstände wird die Stimme aus ihrem Sitz gehoben. Der Klang und die Orientierung gebenden Brüche der Stimme werden verfälscht. Damit war auch eine gesicherte Repertoireauswahl kaum möglich. Gleichzeitig wollten wir im weiteren Arbeitsverlauf erste stimmliche Verbesserungen an Stücken umsetzen und Gesangstechnik für die Arbeit im Repertoire begreifbar machen. Um ihr und ihrer Stimme den Druck zu nehmen, einigten wir uns auf tiefes Repertoire.

Ich entschied mich, in der ersten Stunde Basisübungen der schwedisch-italienischen Gesangstechnik nach meinem Lehrer David Jones anzuwenden, und arbeitete den Kiefer meiner Sängerin „nach hinten“. Dieser erste Schritt verhalf ihr, über eine 60minütige Gesangstunde seit langer Zeit nicht heiser zu werden. Wir haben es mit dieser einfachen Anwendung geschafft, ein Auftreten von Heiserkeit dauerhaft zu verhindern. Dies war nur ein erster Schritt.

Viele weitere Übungen und „biomechanische Einstellungen“ waren notwendig, um zu einer stimmlichen Ausgeglichenheit zu finden.

Nun ist es eine Sache, eine unausgebildete Stimme aufzubauen. Doch die viel größere Herausforderung stellt eine vorbelastete Stimme dar. Denn die schlechten Gewohnheiten sind über Jahre so in den muskulären Abläufen eingearbeitet worden, dass sehr viel Zeit und Geduld aufgewendet werden müssen, um das Muskelgedächtnis „umzuschreiben“.

Oftmals entsteht der Wunsch nach stimmlicher Verbesserung erst am Ende eines zu langen Leidensweges. Nun sinnvoll in den Heilungsprozess der Stimme einzusteigen, ist eine schwierige Aufgabe für Sänger wie Lehrer. Umso mehr bewunderte ich meine Sängerin und ihren Willen nach einer Veränderung! Ein Kollege stellte in einem ähnlichen Zusammenhang einer Kollegin die knappe und einfache Frage: „Brennt das Feuer noch?“ Dies scheint mir die einzig notwendige Frage. Die Antwort rechtfertigt den mühsamen Weg aus einer stimmlichen Sackgasse.

Doch möchte ich zum Ende des Artikels zum beschriebenen Vorgang noch etwas hinzufügen. Wie oben geschildert, begleitete die Sängerin eine große Unsicherheit. Menschlich wie inhaltlich musste sie bei meinen Vorgängern große Enttäuschungen erfahren, und ihre Haltung und Körpersprache signalisierten in unserem ersten Zusammentreffen  – wenn nicht Misstrauen, dann doch erhebliche Vorbehalte. Glücklicherweise hatte die Arbeit am Kiefer einen derart positiven Effekt, dass mir ein erster Vertrauensvorsprung gegeben war, um an weiteren kritischen Punkten arbeiten zu dürfen.

20 Jahre der stimmschädigenden Technik hinter sich zu lassen und zu akzeptieren, im falschen Fach ausgebildet worden zu sein, war schwer.

Heute bereiten wir gemeinsam und guten Gewissens eine erste Demoaufnahme in ihrem neuen Fach als Mezzosopranistin vor. Bis hierher war es kein leichter Weg. Um die Stimme wieder aufzubauen und stimmlich wie als Individuum Selbstbewusstsein zu erlangen, bedurfte es einer langen und sehr intensiven Zusammenarbeit. Es nahm Zeit in Anspruch, die Wahrnehmung für die eigene Stimme zu schulen und sich ganz neu in seine Stimme einhören zu können. Ich habe den größten Respekt für meine Sängerin! Sie hat es mit Geduld und Willenskraft geschafft, zu stimmlicher Selbstzufriedenheit zu finden.

© Clemens Gnad