Motorisches Lernen im Gesangsunterricht

Verstehen, Umsetzen, Verselbständigen und Transferieren

Wer sich mit Gesangstechnik beschäftigt und versucht, gesangstechnische Fortschritte zu erzielen, lernt die Motorik des Singens.

Wie lernt man zu singen, wie lerne ich, mein Instrument zu beherrschen?

Der sängerische Lernprozess ist ein körperlicher. Körperliches Lernen bedeutet motorisches Lernen. Motorisches Lernen ist die Gesamtheit bewusster und unbewusst gesteuerter Bewegungsabläufe. Motorische Fähigkeiten erlernen wir u.a. durch Imitation – also Nachahmung.

Das heißt, wir visualisieren einen körperlichen Vorgang und nutzen die Befähigung zur Nachahmung. Leider lernen die meisten SängerInnen nicht motorisch, sondern versuchen, Klang zu imitieren, oder versuchen, einem Klangideal zu folgen. Dieser Vorgang ist allerdings kontraproduktiv, da muskuläre Prozesse den Klang bestimmen. 

Im Kern ist damit die Motorik des Singens gemeint.

Nach bekannten kognitionspsychologischen Erkenntnissen gliedert sich der Lernprozess in drei Phasen auf:

  • 1. Verstehen
  • 2. Adaption und
  • 3. Automation.

Erst in der dritten Phase sind gesangstechnisch-motorische Lernzusammenhänge so gefestigt, dass der Sänger in eine wirklich freie Interpretation einsteigen kann.

Demnach halte ich es in der Anfangszeit des Gesangunterrichts für sinnvoll, den Fokus auf die Gesangstechnik  auf das körperliche, das motorische  oder anders gesagt, das Hauptaugenmerk auf den perzeptiv-körperlichen Lernprozess zu legen.

Was bedeutet das für den Gesangsunterricht?

In meinem Bremer Gesangstudio unterrichte ich einen Bariton, dessen Zugang in seine Kopfstimme und Höhe gestört war und ist. Er erkannte seine Problematik und suchte nach einem konkreten Ausweg.

Aus meiner Sicht wurde die Problematik durch folgende Punkte ausgelöst: Sichtbar blockierten äußere Hals- und Nackenmuskulatur den Übergang in die Höhe durch Verspannung. Der Hals wurde dabei ganz dünn. Die Zunge verspannte sich ebenfalls völlig, und der weiche Gaumen drückte nach unten. Kiefer und Nacken zogen nach vorn. Für hohe Töne streckte sich der Oberkörper. Der Rippenbogen zog sich zusammen, und der Rücken ging ins Hohlkreuz, wodurch zusätzlich die Atemführung (Zwerchfell) blockiert wurde.

Durch Übungen und Maßnahmen bemühte ich mich, eine Lockerung beim Sänger zu erreichen. Wir versuchten, die überaktiven Muskeln zu irritieren, indem wir ihnen eine Aufgabe zuwiesen. So musste der Sänger beispielsweise seinen Kopf während der Übungen nach links und rechts drehen oder seine Halsmuskulatur während des Singens selbständig massieren, um sie geschmeidig zu halten. Alles half für sich, brachte aber nicht den gewünschten und befreienden Durchbruch.

Abweichend von meiner eigentlichen Methodik, in der ich SängerInnen in einer freien Atmosphäre selbstverantwortliche Erfahrungen und Lernprozesse erleben lassen möchte, sah ich mich in diesem Fall gezwungen, eine Lernmethode anzuwenden, die ich nur selten in voller Konsequenz zum Einsatz kommen lasse: The Human Mirror.

The Human Mirror ist ein sehr intensiver und konzentrierter Vorgang. Lehrer und Schüler „spiegeln“ sich. Man könnte diese Methode auch Spiegelneuronen-Methode nennen. Spiegelneuronen befähigen uns Menschen zur Nachahmung, ja sogar dazu, Emotionen unseres Gegenübers erkennen und mitfühlen zu können.

Was bedeutet das in der Unterrichtssituation?

  1. Vormachen: Der Sänger sitzt mir gegenüber. Der Sänger liest die korrekten „motorisch-akustischen Information“ von meinem Gesicht, Mund, Zunge und Hals etc. ab. Durch das Vormachen werden die korrekten senso-motorischen Informationen bei dem Sänger aktiviert (neuronales Lernen). Der Sänger baut damit ein Wissen über die korrekten Bewegungsabläufe auf.
  2. Nachahmen: Der Sänger versucht, meine Bewegungsabläufe zu imitieren. Durch den gleichen Prozess auf Seiten des Lehrers wie in Phase 1 können fehlerhafte motorische Prozesse bei der Ausführung des Sängers erkannt werden.
  3. Korrektur: Der Sänger wird auf bestehende problematische Bewegungsmuster durch Triggerwörter hingewiesen (Kiefer, Mundhaltung). Der Schüler versteht Ursache und Wirkung. Positiv wahrgenommene Ergebnisse festigen sich und können reproduziert werden.

Dieser Prozess wird nun zyklisch wiederholt. Dadurch kann das senso-motorische Verhalten des Schülers korrigiert werden.

Im Fall meines Baritons führte diese Methode zum gewünschten Ergebnis. Seine Überfunktionen und Verspannungen lösten sich durch die Möglichkeit, möglichst exakt nachzuahmen.

Kein/e Sängerin ist gleich. Jede/r muss dort abgeholt werden, wo er/sie steht! 

Dies ist eine recht schematische Vermittlung, kann aber beim Sänger hoch effizient wirken, wenn der Übergang des rein rezeptiven (geistigen) Vorgangs in einen körperlichen  und damit motorischen  Vorgang verwandelt wird.

Individueller Unterricht bedeutet nicht, den Schüler ohne Konzept dastehen zu lassen.

Diese Methode ist nicht für jeden geeignet. Im Kern des oben genannten Beispiels steht aber die erste Stufe des körperlichen Lernens: Verstehen. Es ist wichtig, den Sänger motorisch-klangliche Zusammenhänge erkennen und verstehen zu lassen.

SängerInnen befinden sich während des Übens in einem Spannungsfeld aus Hören, Fühlen, Konzentration und Verstehen.

Aus dem Spannungsfeld ergeben sich Konzentrationslücken. So ist zu beobachten, dass in einer z.B. fünftönigen Übung schon zwischen dem dritten und vierten Ton die Konzentration bei den meisten SängerInnnen nachlässt. Dies ist in einer Phrase technisch wie qualitativ hörbar.

Mir ist es wichtig, SängerInnen während des Übens aus dem beschriebenen Spannungsfeld herauszuhelfen um sie das Notwendige erkennen zu lassen.

Diese Methode macht den SängerIn zum „Spiegelbild“ des Lehrers und lässt ihn auf diese Weise körperlich begreifen und verstehen.

Motorischer Fertigkeiten

Die oben dargestellte Problematik beinhaltet einen weiteren Aspekt. Bewegungsabläufe sind rasch falsch trainiert. Hat sich ein gesangstechnisches Problem als Gewohnheit eingeschlichen, ist es auf Grund des falschen Aktivierungsmuster schwer zu korrigieren  aber nicht unmöglich!

Das Erlernen motorischer Fertigkeiten gehört zu einer der komplexesten Formen des Lernens. Damit ist die Zusammensetzung neuer, effizienter Bewegungsabläufe gemeint. Das motorische Lernen verbindet verschiedene Arten des Lernens wie: adaptives (gedanklich gesteuertes) Lernen, Konditionierung (Reiz – Reaktion – Assoziation), Gewöhnung und Sensibilisierung.

In der Schwedisch-Italienischen Gesangsschule nach David L. Jones gibt es verschiedene Übungen, die die Reiz–Reaktion  Assoziation unterstützen.

So fällt es vielen Sängern schwer, ein Gefühl für einzelne „Organe“ wie z.B. Zunge oder weichen Gaumen aufzubauen. So ist der weiche Gaumen schwer in das sängerische Bewusstsein zu holen, da er im Alltag unbewusst (Husten, Gähnen) seine notwendigen Dienste verrichtet.

Die Tiefenwahrnehmung zu schulen, ist eine der vornehmsten Aufgaben von Sänger und Lehrer. Die sogenannte propriozeptive Wahrnehmung für das Singen erlangen wir z.B. für den weichen Gaumen durch:

  • äußeren Druck (sensorische Information) auf das Philtrum (Rinne zwischen Oberlippe und Nase)
  • konsonantenlastige Stimmübungen wie z.B. über den Konsonanten „K“ oder „G“
  • haptisches Eingreifen (Tasten, Fühlen, sensorische Informationen)

Die meisten Sänger verstehen schnell, worum es in einer Übung geht. Die praktische Umsetzung stellt ein Problem dar, da sie zeitaufwendig ist und Konzentration erfordert.

Wie bei fast allem, was wir im Leben zur Perfektion treiben wollen, bedarf es der Übung; und Üben bedeutet in unserem Fall Wiederholung und damit Zeitaufwand. Dabei ist es tröstlich zu wissen, dass der Wiederholung die Verselbständigung folgt und als besonderes Geschenk des Himmels der „positive Transfer“ oder einfach die Transferleistung folgt.

Dies zeigt sich auch in der allgemeinen Lernpsychologie.

Fitts (1964) unterschied drei Phasen, die inzwischen allgemein akzeptiert sind: Die erste Phase ist die frühe Phase. Hier versucht der Lernende, die Aufgabe kognitiv zu verstehen und mögliche Lösungen zu entwickeln. Diese Phase ist häufig gekennzeichnet von großen Anforderungen an die Aufmerksamkeit und verbalen (Selbst-)Anweisungen. Dies stimmt mit der Aussage überein, dass es zu Beginn eines Lernvorgangs unabhängig von der Art der gelernten Aufgabe zu einer erhöhten Nutzung der verbalen Ressourcen kommt. In dieser frühen Phase sind die Leistungsverbesserungen sehr groß. Die zweite Phase ist die mittlere Phase. Hier erfolgen feinmotorische Verbesserungen. Die Bewegung wird „runder“ und ökonomischer, und die kognitiven Anteile werden geringer. Der Lernfortschritt in dieser Phase ist geringer als in der ersten. Die dritte und letzte Phase nennt Fitts (1964) späte Phase. Diese erreicht der Lernende durch weitere Übung und Automatisierung der Bewegung. Erst jetzt wird die benötigte Aufmerksamkeit so reduziert, dass das Bewusstsein frei ist, z. B. für Strategien und Taktiken. Darüber hinaus kann die Bewegung jetzt variabel in verschiedenen Situationen angewendet und angepasst werden. Der eigentliche sichtbare Lernerfolg in dieser Phase ist sehr gering. Während des Lernens verändern sich die Prozesse somit von aufmerksamkeitsfordernden hin zu automatisierten.“ (Pipereit, K.: Einflussgrößen auf die sensomotorische Adaptation, Kognition und Propriozeption. Doktorarbeit Sporthochschule Köln, Köln 2005, S.15)

Sängern und Sängerinnen müssen Lösungswege für teilweise sehr komplexe Problemstellungen an die Hand gegeben werden. Manchmal führt fehlerhaftes gesangstechnisches Verhalten zu stimmlichen Problemen oder gar medizinisch bedenklichen Diagnosen. Professionelle SängerInnen, die sich in einem Engagement befinden oder deren Stimme sich im Aufbau innerhalb des Studiums befindet, sollten stimmtechnisch kompetent begleitet werden. Negative Auswirkungen schlechter Stimmbehandlung können karriereschädigende Resultate zur Folge haben. Stimm- oder gesangstechnischen Problemen ohne Konzept zu begegnen, ist ein falscher Ansatz.

Fazit

Wer sich mit Gesangstechnik beschäftigt, sollte Gesang nicht als ein Mysterium begreifen. Gesangstechnik meint Körperarbeit. Körperarbeit bringt die Ausbildung senso-motorischer Fähigkeiten mit sich. Diese Fähigkeiten lassen uns die Motorik des Singens wahrnehmen, begleiten und nutzen. Motorische Abläufe des Singens werden konkret und können im Repertoire ihre Umsetzung finden.

Weiterer Artikel zu diesem Thema: „Hören oder Fühlen“.

© Clemens Gnad